Die Anwesenheit Abwesender – Bilder aus Ravensbrück


„Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht nah genug dran. “ Robert Capas Faustregel eines eindringlichen Fotojournalismus führt mitten hinein in das Problem, vor dem heutige Fotografen im früheren KZ Ravensbrück stehen. Auf was sollen sie ihre Kamera richten? Was bedeutet Nähe an einem Ort, an dem Besucher fast achtzig Jahre zu spät kommen. Zu spät, um die von Menschen für andere Menschen eingerichtete Hölle schließen zu können. Zu spät, um mit der Wucht großer, direkter, uns mit dem Schrecken konfrontierender Bilder aufrütteln zu können. Selbst für ein authentisches Bild vom Leben und Sterben in einem großen Konzentrationslager ist es fast 80 Jahre nach dessen Befreiung viel zu spät.

In Ravensbrück herrscht heute Stille. In der Gedenkstätte herrscht die Aura eines Friedhofs. Beim Blick durch den Sucher der Kamera stellt sich die Frage, worauf der Fokus liegen soll in dem weiten, offenen Raum, auf dem einst in dutzenden Baracken zehntausende Menschen eingepfercht und drangsaliert lebten. Lässt sich die Enge und die Angst bildlich darstellen, die für die Häftlinge im Lager eine nie alltäglich werdende Realität war? Dürfen wir den Versuch unternehmen, Lebensbedingungen sinnbildlich zu erfassen, zu denen wir keinen sinnlichen Zugang mehr haben? Nichts von dem, was wir heute am eigenen Leib erleben, lässt sich vergleichen mit dem jahrelangen Ausgeliefertsein, mit der Folter und dem willkürlichen Töten im Lager. Nicht einmal die Überlebenden können uns mehr dabei helfen, die Angemessenheit einer bildlichen Annäherung an ein nicht vorstellbares System der Gewalt und Ausgrenzung zu prüfen. Ihre Stimme ist verstummt. Gespeichert bleibt sie in aufbewahrten Worten oder Bildern und dem, was wir in unseren Köpfen daraus geformt haben.

Was uns bleibt, ist das Deuten und Verstehen der Erinnerungskultur selbst. Die unmittelbare Umgebung des Lagers in Ravensbrück wird heute von mehreren Schichten mahnender Erinnerungskulturen geformt. Das Ziel der Gedenkstätte besteht jedoch offenkundig nicht länger im Aufrütteln, Bewahren oder gar Nacherleben. Es geht vor allem um das Markieren des inneren Raums des KZ. Um diese leere Fläche herum, auf der einst die Baracken und Werkstätten standen, wuchern Bäume. Wo die Natur nicht beharrlich zurückgedrängt wird, ergreift sie von Orten der Zwangsarbeit und des Massenmordes Besitz. Dieser Kontrast gibt der Gedenkstätte ̶ jenseits der unerreichbaren Authentizität ̶ etwas gewollt Sinnbildliches.

Ravensbrück lässt sich heute als ein riesiges Zeichen für die Ungeheuerlichkeit der Konzentrationslager deuten. Dabei geht es nicht allein um die von den Nationalsozialisten und ihren Helfern begangenen unvorstellbaren Verbrechen. Zur überwältigenden Quantität des Bösen kommt eine besondere Qualität hinzu. Lager wie das in Ravensbrück waren Teil eines pervertierten Systems: eine von den Nationalsozialisten geschaffene, abgeschottete Hölle der vollständigen Entmenschlichung. Wer nach Ravensbrück oder ähnliche Lager kam, lebte  ̶ oder starb  ̶ in einem über Jahre anhaltenden Ausnahmezustand vollkommender Willkür und existentieller Unsicherheit. Draußen, schon in den Wohnquartieren der SS, verlief das Leben dagegen so normal, wie das in einem radikalen Krieg möglich war.

Die Gedenkstätte erinnert an das KZ Ravensbrück als einen abgekapselten Ort der vollständigen Auflösung menschlicher Existenz in Angst und Unsicherheit. Solange solche Orte erhalten bleiben, kann niemand behaupten, er wisse nicht, zu was das führt. In den Lagern überließen die Nationalsozialisten die, die sie zu Feinden erklärten, der physischen oder psychischen Vernichtung. Das geht über Untaten und Verbrechen hinaus. Im Lager lebten und starben Menschen nicht nur außerhalb jeder Menschlichkeit, sondern buchstäblich außerhalb der Menschheit. Diese abgeschottete Welt der willkürlichen Gewalt außerhalb der zivilisierten Welt sichtbar zu halten: darin besteht die Aufgabe der Gedenkstätten.

Innen und außen bilden deshalb auch die Sichtachsen der fotografischen Annäherung an die Gedenkstätte. In Ravensbrück markiert sie den Kern des Unvorstellbaren – wie eine sorgsam abgeschottete Zeitkapsel in einer der Natur überlassenen Umgebung. Der Schrecken ist dort nicht mehr zu finden. Aber er steckt in uns. Denn auch wenn die Überlebenden des Lagers nicht mehr selbst sprechen können, bleiben uns ihre Worte. Wir müssen sie bewahren, um den Schrecken und das Wissen davon lebendig zu halten. Das Wissen um das Schicksal derer, die in dieser Hölle existieren mussten, und die inneren Bilder der Hölle, mit denen wir Ravensbrück betreten, füllen die Hülle der Gedenkstätte mit Sinn. 















Blumen (Grazyna Chrostowska, 1941)
Oft, weiß ich noch kaufte ich Blumen
an irgendeiner Straßenecke,
Aber um diese Zeit, sind meine herbstlichen, blassen,
Schon kühlen Astern vergangen
Und verblüht …
Sogar die Rosen. Alles ist schon vergangen,
Auch ich komme nicht als dieselbe zurück
zu denselben Dingen,
Weil jeder Augenblick ein neues Leben ist,
Und das Leben fließt.